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Einbecker Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht (DGMR) zu den Grenzen ärztlicher Behandlungspflicht bei schwerstgeschädigten Neugeborenen (1986/1992)
[MedR 1986, 281; 1992, 206]
Die "Einbecker Empfehlungen" über die Grenzen ärztlicher Behandlungspflicht bei schwerstgeschädigten Neugeborenen wurden 1986 zum ersten
Mal veröffentlicht. Seither haben sich die wissenschaftlichen und ethischen Diskussionen im Bereich der Neugeborenenmedizin weiter differenziert,
auch hat der damalige Text in der Praxis zu Mißdeutungen Anlaß gegeben. Die Akademie für Ethik in der Medizin, die Deutsche Gesellschaft für
Kinderheilkunde und die Deutsche Gesellschaft für Medizinrecht haben daher Arbeitsgruppen eingesetzt, um eine Fortschreibung der Empfehlungen zu
diskutieren. Die unterzeichneten Teilnehmer an den Beratungen haben eine Neufassung des Textes gemeinsam erarbeitet. Die Einbecker Empfehlungen in
ihrer revidierten Fassung werden von den drei beteiligten Institutionen getragen; die jeweiligen Vorstände haben die Veröffentlichung empfohlen.
Einbecker Empfehlungen - Revidierte Fassung 1992
Präambel:
Die nachfolgenden Empfehlungen sind nicht als Handlungsanweisung aufzufassen, sondern als Orientierungshilfe für die konkrete, vom einzelnen Arzt
jeweils zu verantwortende Situation. Sie sollen gleichermaßen der Entscheidungsfindung und der Beratung dienen.
In der Neufassung berücksichtigen sie die seit ihrer Formulierung 1986 eingetretenen Veränderungen der diagnostischen, therapeutischen und
prognostischen Situation bei schwerstgeschädigten Neugeborenen. Auf die im Gang befindliche Verlagerung mancher Probleme in den Pränatalbereich
wird nicht eingegangen.
Ausgangspunkt bleibt die grundsätzliche Unverfügbarkeit menschlichen Lebens in jeder Entwicklungs- und Altersstufe. Dennoch können in den
Empfehlungen angesprochene Grenzsituationen dazu führen, daß dem Bemühen um Leidensvermeidung oder Leidensminderung im wohlverstandenen Interesse
des Patienten ein höherer Stellenwert eingeräumt werden muß als dem Bemühen um Lebenserhaltung oder Lebensverlängerung. Hierzu ist Einvernehmlichkeit
mit allen Betroffenen zu suchen und anzustreben, daß die Entscheidung von ihnen mitgetragen werden kann.
I.
- Das menschliche Leben ist ein Wert höchsten Ranges innerhalb unserer Rechts- und Sittenordnung.
Sein Schutz ist staatliche Pflicht (Art. 2 Abs. 2
Grundgesetz), seine Erhaltung vorrangige ärztliche Aufgabe.
- Eine Abstufung des Schutzes des Lebens nach der sozialen Wertigkeit, der Nützlichkeit, dem körperlichen oder dem geistigen Zustand verstößt gegen
Sittengesetz und Verfassung.
II.
- Die gezielte Verkürzung des Lebens eines Neugeborenen durch aktive Eingriffe ist Tötung und verstößt gegen die Rechts- und die ärztliche
Berufsordnung.
- Der Umstand, daß dem Neugeborenen ein Leben mit Behinderungen bevorsteht, rechtfertigt es nicht, lebenserhaltende Maßnahmen zu unterlassen oder
abzubrechen.
- Eine Pflicht zur Behandlung und zur personalen Betreuung endet mit der Feststellung des Todes des Neugeborenen. Tod ist nach der übereinstimmenden
medizinischen und rechtlichen Auffassung als irreversibler Funktionsausfall des Gehirns (Gesamthirntod) zu definieren.
III.
Eine Pflicht zur Behandlung und zur personalen Betreuung endet mit der Feststellung des Todes des Neugeborenen. Tod ist nach der übereinstimmenden
medizinischen und rechtlichen Auffassung als irreversibler Funktionsausfall des Gehirns (Gesamthirntod) zu definieren.
IV.
- Der Arzt ist verpflichtet, nach bestem Wissen und Gewissen das Leben zu erhalten sowie bestehende Schädigungen zu beheben oder zu mildern.
- Die ärztliche Behandlungspflicht wird jedoch nicht allein durch Möglichkeiten der Medizin bestimmt. Sie ist ebenso an ethischen Kriterien und am
Heilauftrag des Arztes auszurichten. Das Prinzip der verantwortungsvollen Einzelfallentscheidung nach sorgfältiger Abwägung darf nicht aufgegeben werden.
- Es gibt daher Fälle, in denen der Arzt nicht den ganzen Umfang der medizinischen Behandlungsmöglichkeiten ausschöpfen muß.
V.
Diese Situation ist gegeben, wenn nach dem aktuellen Stand der medizinischen Erfahrungen und menschlichem Ermessen das Leben des Neugeborenen nicht
auf Dauer erhalten werden kann, sondern ein in Kürze zu erwartender Tod nur hinausgezögert wird.
VI.
Angesichts der in der Medizin stets begrenzten Prognosesicherheit besteht für den Arzt ein Beurteilungsrahmen für die Indikation von medizinischen
Behandlungsmaßnahmen, insbesondere, wenn diese dem Neugeborenen nur ein Leben mit äußerst schweren Schädigungen ermöglichen würden, für die keine
Besserungschancen bestehen. Es entspricht dem ethischen Auftrag des Arztes, zu prüfen, ob die Belastung durch gegenwärtig zur Verfügung stehende
Behandlungsmöglichkeiten die zu erwartende Hilfe übersteigt und dadurch der Behandlungsversuch ins Gegenteil verkehrt wird.
VII.
Auch wenn im Einzelfall eine absolute Verpflichtung zu lebensverlängernden Maßnahmen nicht besteht, hat der Arzt für eine ausreichende
Grundversorgung des Neugeborenen, für Leidenslinderung und menschliche Zuwendung zu sorgen.
VIII.
- Die Eltern/Sorgeberechtigten sind über die bei ihrem Kind vorliegenden Schäden und deren Folgen sowie über die Behandlungsmöglichkeiten und
deren Konsequenzen aufzuklären. Sie sollen darüber hinaus durch Beratung und Information in den Entscheidungsprozeß mit einbezogen werden.
- In den Prozeß der Entscheidungsfindung gehen auch die Erfahrungen der mit der Betreuung und Pflege des Kindes betrauten Personen mit ein.
- Gegen den Willen der Eltern/Sorgeberechtigten darf eine Behandlung nicht unterlassen oder abgebrochen werden.
Verweigern die Eltern/Sorgeberechtigten die Einwilligung in ärztlich gebotene Maßnahmen oder können sie sich nicht einigen, so ist die Entscheidung
des Vormundschaftsgerichtes einzuholen. Ist dies nicht möglich, hat der Arzt die Pflicht, eine medizinisch dringend indizierte Behandlung
(Notmaßnahmen) durchzuführen.
IX.
Die erhobenen Befunde, die ergriffenen Maßnahmen sowie die Gründe für den Verzicht auf eine lebenserhaltende Behandlung sind in beweiskräftiger Form zu dokumentieren.
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