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Einbecker Empfehlungen zu Rechtsfragen der Telemedizin (1999)
[MedR 1999, 557.]
- Telemedizin ermöglicht oder unterstützt in Überwindung räumlicher Entfernungen medizinische Dienstleistungen durch die koordinierte Anwendung
von Telekommunikation und Informatik (Telematik). Die Anwendungsmöglichkeiten der Telemedizin haben in den vergangenen Jahren an Qualität und
Quantität zugenommen. Damit ist kein neues Fachgebiet der Medizin entstanden. Vielmehr vermehren sich die Möglichkeiten, medizinische
Dienstleistungen in ihrer Qualität und Effizienz zu steigern. So kann z.B. Expertenwissen unter Aufhebung zeitlicher und räumlicher Grenzen für den
Patienten zur Verfügung gestellt werden.
- Durch das fehlende Erfordernis einer zeitlichen und räumlichen Koinzidenz der Handelnden sind die telemedizinischen Dienstleistungen
prädestiniert für den sektorübergreifenden Einsatz. Telemedizin kann daher zur Lösung der Probleme beitragen, die sich aus der Trennung des
ambulanten und stationären Sektors ergeben.
- Die Anwendungsmöglichkeiten der Telemedizin unterscheiden sich vornehmlich in ihren Auswirkungen auf das Behandlungsverhältnis im
- Einsatz von Telemedizin im Hintergrund des Behandlungsverhältnisses, so z.B. zur ärztlichen Fortbildung, externen Archivierung oder anonymisierten second opinion (ergänzende Telemedizin);
- Einsatz von Telemedizin zur Einbindung eines Spezialisten als Konsiliararzt oder Mitbehandler und
- eigenständige telemedizinische Arzt-Patienten-Beziehung (sog. cyber doc).
- Telemedizin wirft besondere rechtliche Fragestellungen in den Bereichen auf, in denen der einheitlichen Betrachtung von
Gesundheitsdienstleistungen unterschiedliche Rechtsnormen entgegenstellen. Die im Zusammenhang mit der Telemedizin zu lösenden Probleme und
Aufgaben werden in den nachfolgenden Empfehlungen zusammengefasst.
- Telemedizin erfordert Zusammenarbeit, wo bislang Einzelleistungen dominierten. Sie bietet zusätzliche Chancen für den Patienten, indem sie
verbindet und vernetzt, wo früher Spezialisierung und Sektorierung vorherrschten. Sie kann durch den erheblich gesteigerten Informationsfluss und
die verbesserte Verfügbarkeit von Spezialwissen zu einem besseren Verständnis seitens des Patienten beitragen. Dadurch kann dem Patienten eine
wirksamere Entscheidungshilfe für den informed consent gegeben werden. Der Patient kann eine stärkere eigene Verantwortung im Behandlungsprozess
übernehmen und helfen, den Erfolg der medizinischen Maßnahmen abzusichern.
- So leistet Telemedizin einen Beitrag zur Unterstützung des Patienten auf seinem Weg zum gleichberechtigten und eigenverantwortlich handelnden
Partner im Gesundheitswesen. Sie darf aber nicht zum Selbstzweck werden, sondern soll zu einer qualitativen Verbesserung der medizinischen
Versorgung führen. Sie fördert eine umfassende Betrachtung des Patienten und stärkt damit die Entwicklung einer vertrauensvollen und
partnerschaftlichen Beziehung zwischen Arzt und Patient.
- Der Grundsatz der "persönlichen Leistungserbringung" muß im Hinblick auf Telemedizin modifiziert werden. Telemedizin darf das
persönliche Gespräch und die persönliche Diagnostik oder Therapie nur dann ersetzen, wenn nennenswerte Defizite im Vergleich zum unmittelbaren
Arzt-Patient-Kontakt nicht zu erwarten sind.
- Die von der Rechtsprechung entwickelten und im Berufsrecht verankerten Grundsätze zur unzulässigen Fernbehandlung gelten auch in der
Telemedizin. So sind bspw. telechirurgische Eingriffe, bei denen das Behandlungsgeschehen von einem Arzt dominiert wird, der nicht unmittelbar vor
Ort eingreifen kann, unzulässig.
- Die in der Telemedizin liegenden Möglichkeiten zur Steigerung von Qualität und Effizienz können erst dann vollständig genutzt werden, wenn
technische Fehlerquellen und Medienbrüche durch Verwendung übergreifender und einheitlicher Austauschformate vermieden werden. Dies erfordert einen
hohen Grad der Harmonisierung der Kommunikationsstandards.
- Die Entscheidungen über Entwicklung, Ausbau und Anwendung der Telemedizin dürfen nicht allein den Krankenkassen und Krankenversicherungen
überlassen werden. In einem solidarischen Gesundheitswesen müssen sich die Leistungsträger mit den Leistungserbringern und den Versicherten über
den Umfang der notwendigen und zu finanzierenden Innovation verständigen. Hierzu müssen auch adäquate Leistungsbewertungen für die telemedizinischen
Dienstleistungen in die Vergütungssysteme aufgenommen werden. Die Weiterentwicklung der Vergütungssysteme muss auch die Vergütung von grenzüberschreitenden
Leistungen berücksichtigen. Dies erscheint besonders notwendig innerhalb der EU, da hier die passive Dienstleistungsfreiheit die Einführung eines
staatenübergreifenden Kostenerstattungsmechansimus erfordert.
- Auch bei telemedizinischen Anwendungen muss vor Ort der Facharztstandard für den Patienten gewährleistet sein. Der Umstand, dass durch
telemedizinische Anwendungen ein über dem Standard liegendes Expertenwissen einfließen kann, führt allein nicht zu einer Veränderung dieses
Standards.
- Der Grundsatz der Methodenfreiheit des Arztes gilt auch in der Telemedizin. Der Arzt hat die Freiheit, die seiner Ausbildung, Erfahrung und
Praxis entsprechende Methode auszuwählen. Telemedizinische Anwendungen werden erst dann zum Standard, wenn ihr Nutzen im Wesentlichen unbestritten
ist, sie in der Praxis nicht nur an wenigen Zentren verbreitet und für den jeweiligen Patienten risikoärmer oder weniger belastend sind oder eine
bessere Heilungschance versprechen.
- Der Patient ist über die besonderen Risiken einer telemedizinischen Anwendung aufzuklären.
- Erst wenn eine telemedizinische Anwendung zum Standard geworden ist, ist der Arzt in einer Klinik oder Praxis, der diese Anwendung selbst nicht
anbietet, verpflichtet, auf eine solche, andernorts bestehende Möglichkeit hinzuweisen. Vorher besteht auch keine Aufklärungspflicht nach den
Regeln der erhöhten Aufklärung bei Behandlungsalternativen.
- Die unterschiedlichen Möglichkeiten der Dokumentation telemedizinischer Anwendungen lassen die Grundsätze der ärztlichen Dokumentationspflicht
unberührt. Darüber hinaus müssen Herkunft, Qualität und Unversehrtheit der übermittelten Daten nachvollziehbar sein.
- Haftungsrechtlich ist der vom Primärbehandler im Rahmen einer telemedizinischen Anwendung hinzugezogene Arzt Konsiliararzt, es sei denn, er
beherrscht das Behandlungsgeschehen und wird damit zum Mitbehandler. Der Konsiliararzt ist im stationären Bereich bei Vorliegen eines gespaltenen
Krankenhausvertrages oder Belegarztvertrages und im ambulanten Bereich meist Vertragspartner des Patienten und haftet diesem aus Vertrag. Besteht
mit dem Patienten ein totaler Krankenhausaufnahmevertrag, ist der Konsiliararzt Erfüllungsgehilfe des Krankenhausträgers. Für eigene Fehler haftet
der Konsillararzt nach den allgemeinen haftungsrechtlichen Grundsätzen. Auch bei Bindung an den Auftrag hat der Konsiliararzt eigene Prüfungspflichten.
Übersicht er offensichtliche Fehler des PrimärbehandIers, haftet er wegen mangelnder Plausibilitätskontrolle. Für Fehler aus der Kommunikation und
Organisation der telemedizinischen Anwendung treten die Grundsätze des Organisationsverschuldens in den Vordergrund.
- Um Kollisionen nationaler Rechtsnormen im Bereich der ärztlichen Haftung zu vermeiden, sollten Arzt und Patient bei staatenübergreifenden
telemedizinischen Anwendungen eine Rechtswahl- und eine Gerichtsstandsvereinbarung treffen. Die internationalen Bemühungen um eine staatsvertragliche
Regelung telemedizinischer Haftungsprobleme sind zu unterstützen.
- Gegenwärtig geht der Datenschutz auf die Anforderungen der Informationstechnik nicht ein. Er berücksichtigt weder die besonderen Bedingungen
neuer Technologien noch reflektiert er die Frage, ob die hergebrachten Datenschutzprinzipien einen angemessenen Regelungsansatz bieten können. Auch
die nach der EU-Datenschutzrichtlinie zu novellierende Datenschutzgesetzgebung wird zu den wesentlichen Fragestellungen der Telemedizin wohl keine
hinreichenden Antworten bieten. Daher ist zu prüfen, ob nur eine besondere Kodifikation zum Schutz von Gesundheitsdaten in der Lage ist, bestehende
Schutzlücken zu schließen oder ob die Ergänzung des bestehenden Datenschutzrechts ausreicht. Jedenfalls sollten die spezifischen Bedingungen von
Praxis und Forschung in der Medizin und die Verwertung der dabei entstehenden Daten angemessener berücksichtigt werden, als dies durch das
gegenwärtig geltende, allgemeine Datenschutzrecht der Fall ist. Die dabei entstehende Rechtssicherheit würde eine patientenorientierte
Weiterentwicklung der Telemedizin gewährleisten.
- Bei telemedizinischen Anwendungen muss sichergestellt werden, dass die Datenübermittlung durch die Einwilligung des Patienten legitimiert ist.
Hierzu ist der Patient über ihren Umfang, ihre Risiken und die Alternativen der Datenübermittlung aufzuklären, Die Einwilligung sollte schriftlich
erfolgen und muss dokumentiert werden. Bei Datenübermittlungen in Länder außerhalb der EU sind besondere Schutzvorkehrungen oder eine gesonderte
schriftliche Einwilligung des Patienten geboten.
- Es liegt im Interesse einer größtmöglichen Datensicherheit, die übermittelte, Datenmenge bei telemedizinischen Anwendungen auf das absolut
Notwendige zu beschränken (Minimalprinzip, Anonymisierung, Pseudonymisierung). Die Datensicherheit gebietet im übrigen die Verwendung von allgemein
anerkannten Sicherungsverfahren nach dem jeweils aktuellen Stand der Verschlüsselungstechnik und digitalen Signaturverfahren. Dennoch ist eine
absolute Datensicherheit nicht erreichbar, zumal nicht auszuschließen ist, dass die Fortentwicklung der Kryptographie in der Zukunft eine
Entschlüsselung der heute als sicher geltenden Daten möglich macht. Diese Aspekte stehen einer Anwendung der Telemedizin nicht entgegen. Eine
Abwägung der Risiken und Vorteile kann aber zu Einschränkungen führen.
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