Einbecker Empfehlungen "Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik" der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht

1. Einleitung

Im Jahr 2002 hat die DGMR die “Einbecker Empfehlungen zu genetischen Untersuchungen und Persönlichkeitsrecht” verabschiedet. Im Kontext der fachwissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion hat sich die Deutsche Gesellschaft für Medizinrecht anlässlich ihres 11. Einbecker Workshops mit medizinischen, ethischen und rechtlichen Fragen der Präimplantationsdiagnostik im internationalen Rahmen und möglichen Gesetzesänderungen auseinander gesetzt. Als Tagungsergebnis wurden die nachfolgenden Empfehlungen verabschiedet.

2. Begriffsklärung

Zur Verbesserung der Begriffsklarheit werden folgende Unterscheidungen und Definitionen vorgeschlagen:

Pränataldiagnostik (PND): vorgeburtliche Diagnostik am Ungeborenen
Präimplantationsdiagnostik (PID): Diagnostik an Eizellen im Vorkernstadium und an in-vitro entstandenen Embryonen vor der Implantation.

Im Rahmen von PID finden derzeit drei unterschiedliche Diagnoseverfahren Anwendung:

  • Polkörperdiangostik
  • Blastomerendiagnostik
  • morphologische Beurteilung von Eizellen im Vorkernstadium und von Embryonen

Während bei der Polkörperdiagnostik nur mütterliche Chromosomenveränderungen oder Genmutationen indirekt beurteilt werden können, ist bei der Blastomerendiagnostik auch die Beurteilung väterlicher Veränderungen möglich. Im englischen Sprachgebrauch wird in der Regel der Begriff “preimplantation genetic diagnosis” (PGD) ausschließlich für genetische Untersuchungen verwendet. Das Entwicklungspotential von Eizellen im Vorkernstadium und Embryonen kann auch durch rein morphologische Beurteilung abgeschätzt werden.

3. Anwendungsbereich

Genetische Präimplantationsdiagnostik zielt derzeit auf die Feststellung von Genmutationen und Chromosomenstörungen durch Polkörperdiagnostik oder durch Untersuchung einer Zelle des Embryos. Für die Bundesrepublik Deutschland wird geschätzt, dass nach dem gegenwärtigen Stand der medizinisch-wissenschaftlichen Möglichkeiten etwa 500 Untersuchungen dieser Art pro Jahr in Situationen mit einem speziell erhöhten Risiko für monogene Erkrankungen und Chromosomenstörungen medizinisch sinnvoll erscheinen.

Nach einer In-vitro-Fertilisation (IvF), die wegen einer bestehenden Infertilität durchgeführt wird, ohne dass ein spezifisch erhöhtes genetisches Risiko besteht, entstehen Schwangerschaften nur in etwa 20% der Fälle. Dabei wird eine Vielzahl von Embryonen transferiert, denen die Entwicklungsfähigkeit fehlt, obwohl dies bei Einsatz einer PID hätte erkannt werden können. Sollte es sich erweisen, dass eine Embryonenauswahl in diesen Situationen zu einer erheblichen Senkung der Abort- und Verbesserung der Geburtenrate führt, könnten weniger als 3 Embryonen transferiert und die Zahl der Mehrlingsschwangerschaften vermindert werden. Dies würde die Anzahl sinnvoller Anwendungen der PID erheblich erhöhen.

Im Ausland wird die PID an einzelnen Zentren auch zur Identifikation geeigneter Gewebespender für erkrankte Geschwister und für Tests auf eine erhöhte Wahrscheinlichkeit multifaktorieller Erkrankungen angewendet.

4. Rechtliche Bewertung von PID nach dem Embryonenschutzgesetz

Einigkeit herrscht, dass die PID an entnommenen totipotenten Zellen als Verwendung solcher Zellen zu einem nicht ihrem Erhalt dienenden Zweck nach § 2 Abs. 1. Embryonenschutzgesetz (ESchG) strafbar ist. Eine totipotente Zelle gilt gemäß § 8 Abs. 1 ESchG als Embryo im Sinne des ESchG. Schon ihre Entnahme unterliegt deshalb dem ebenfalls strafbewehrten Klonverbot des § 6 Abs. 1 ESchG.

Uneinigkeit herrscht dagegen bei der Beurteilung der Zulässigkeit der genetischen PID an nicht totipotenten Zellen. Von einem Teil der Literatur wird eine Strafbarkeit nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG und § 2 Abs. 1 ESchG angenommen.

§ 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG verbietet die Befruchtung einer Eizelle zu einem anderen Zweck als der Herbeiführung einer Schwangerschaft. Die Befürworter einer Strafbarkeit sehen dies bei der PID verwirklicht, weil der Arzt die Befruchtung der Eizelle zunächst zum Zwecke der Untersuchung vornehme und danach nur im Fall eines günstigen Ergebnisses, also bedingt, die Schwangerschaft herbeiführen wolle. Dagegen spricht, dass – nach systematischen Gesichtspunkten erkennbar – eine Befruchtung, die den Zweck der Herbeiführung einer Schwangerschaft hat, vom Gesetz privilegiert und nicht ein anderer, gleichzeitig verfolgter Zweck pönalisiert wird. Die Befruchtung einer Eizelle, die einer PID unterzogen werden soll, erfolgt jedoch auch mit der Absicht, eine Schwangerschaft herbeizuführen. Eine andere Betrachtung erfordert dagegen eine unnatürliche Aufspaltung des auf dieses Ziel gerichteten einheitlichen Handelns.

§ 2 Abs. 1 ESchG verbietet die Verwendung eines Embryos zu einem nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck. Dies wird teilweise durch die Untersuchung und das Absterbenlassen des Embryos nach erfolgter PID mit ungünstigem Ergebnis als verwirklicht angesehen. Dagegen ist vorzubringen, dass beides keine Handlungen im Sinne des Wortlauts “verwenden” sind, und dass als Zweck der Untersuchung der Erhalt des Embryos und die Erzielung einer Schwangerschaft angesehen werden kann.

Weitere Argumente gegen eine Strafbarkeit sind, dass es am Entsprechen i.S.d. § 13 StGB der Unterlassung mit dem aktiven Tun einer missbräuchlichen Verwendung mangelt und dass eine Rechtfertigung entsprechend § 218a Abs. 2 StGB bzw. nach § 34 StGB vorliegt.

Zudem führt die Annahme einer Strafbarkeit zu nicht nachvollziehbaren Wertungswidersprüchen mit anderen strafrechtlichen Bestimmungen, namentlich den §§ 218ff. StGB, die eine “Schwangerschaft auf Probe” nicht verbieten. Sollte die PID zu besseren Ergebnissen z.B. hinsichtlich der Schwangerschaftsraten nach einer IvF führen, in anderen Staaten deshalb üblich sein und zum (internationalen) Stand der Erkenntnis gehören, verhinderte ein Verbot die Einhaltung des medizinischen Standards. All dies spricht gegen die Annahme einer Strafbarkeit. Dennoch erscheint die entgegengesetzte Ansicht, die eine Strafbarkeit bejaht, vertretbar, so dass eine unklare Rechtslage das Risiko strafrechtlicher Sanktionen mit sich bringt. Eine gesetzliche Klarstellung ist also notwendig, zumal eine angenommene Strafbarkeit weitere Implikationen hätte:

Eine Beteiligung an im Ausland durchgeführter in Deutschland strafbarer PID (an totipotenten Zellen oder je nach Ansicht auch an pluripotenten Zellen) kann nach § 9 Abs. 2 StGB strafbar sein, wenn ein Arzt diese von Deutschland aus unterstützt und somit als Teilnehmer Beihilfe leistet. Bei einer reinen Auslandstätigkeit in diesem Zusammenhang kann sich gemäß § 5 Nr. 12 StGB ein Amtsträger oder für den öffentlichen Dienst besonders verpflichteter Arzt (z.B. Hochschullehrer oder Arzt an einem deutschen öffentlichen Krankenhaus) ebenso strafbar machen.

5. Verfassungsrechtlicher Rahmen

Als mögliche Grundrechtsträger kommen in erster Linie der Embryo, die Frau und der Arzt, auch als Wissenschaftler, in Betracht.
Der verfassungsrechtliche Status in-vitro erzeugter Embryonen ist nach wie vor umstritten. Die bisherigen Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zu Fragen des vorgeburtlichen Lebensrechts und seines Schutzes, sowie der gesetzgeberischen Grundentscheidung im ESchG legen es nahe, auch bei einer künstlichen Erzeugung menschlichen Lebens davon auszugehen, dass das Grundrecht auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG seine schützende Wirkung ab dem Zeitpunkt der Entstehung eines menschlichen Lebewesens entfaltet. Viele Autoren und der Gesetzgeber im Embryonenschutzgesetz sehen dies mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle bzw. nach funktionsadäquaten Maßnahmen als gegeben an. Es werden auch andere Zeitpunkte, wie die Nidation oder der Abschluss der Phase möglicher Zwillingsbildung diskutiert.

Die durch das Bundesverfassungsgericht praktizierte Parallelisierung des zeitlichen Beginns von Lebensrecht und Menschenwürde spricht dafür, auch die Schutzwirkungen des Art. 1 Abs. 1 GG im entsprechenden Zeitpunkt einsetzen zu lassen. Die gegenteilige Auffassung in Form von Stufen- und Wachstumstheorien der Menschenwürde und des Lebensrechts entspricht zwar dem körperlichen und geistigen Wachsen und Werden, bleibt aber den Nachweis willkürfreier Zäsuren für die Bestimmung des Beginns des Lebensrechts schuldig.

Diese verfassungsrechtliche Bewertung entspricht in ethischer Hinsicht einer substanzontologischen Betrachtungsweise, die Würde- und Lebensschutz auf alle menschlichen Lebewesen erstreckt und nicht von dem Vorliegen bestimmter Eigenschaften und Fähigkeiten abhängig macht. Die Anwendbarkeit des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG (Diskriminierungsverbot Behinderter) auf die Präimplantationsdiagnostik ist vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte der Norm abzulehnen. Der Sache nach geht es vielmehr um eine “Diskriminierung” auf Grund einer potenziellen genetisch bedingten Behinderung des Embryos, die am Maßstab des Art. 1 Abs. 1 GG zu messen wäre. Das Grundrecht der Frau auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gebietet, diese im Rahmen des medizinisch und rechtlich Möglichen vor schwerwiegenden physischen und psychischen Gefahren im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt zu schützen. Daraus ergibt sich ein Informationsanspruch, der auch Daten zur Entwicklungsfähigkeit und zur genetischen Konstitution des Embryos umfasst, soweit sie Auswirkungen auf die Gesundheit der Frau haben können. Auch wenn die Frau durch die Entscheidung zur Durchführung einer IvF die Entstehung der Embryonen veranlasst und ihre grundsätzliche Bereitschaft zum Transfer in ihre Gebärmutter zum Ausdruck gebracht hat, würde ein Transfer gegen ihren Willen einen Eingriff in ihre körperliche Integrität und Menschenwürde darstellen. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG, nach mancher Ansicht auch das Grundrecht aus Art. 6 GG (Schutz von Ehe und Familie), schützen auch den Kinderwunsch der Eltern einschließlich medizinisch indizierter IvF. Der Kinderwunsch findet seine Grenzen in den Rechten Dritter, insbesondere der künstlich erzeugten Embryonen. Die ebenfalls betroffene Berufsfreiheit des Arztes aus Art. 12 Abs. 1GG und die Forschungsfreiheit des Wissenschaftlers aus Art. 5 Abs. 3 GG, in der sich auch die positiven Auswirkungen der Forschung für andere Grundrechtsträger widerspiegeln, müssen im Rahmen einer Rechtsgüterabwägung zurücktreten.

6. Bewertung

Eine Abwägung dieser Grundrechtspositionen rechtfertigt und gebietet es, präimplantationsdiagnostische Maßnahmen zuzulassen, wenn gesetzliche Regelungen die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgaben gewährleisten. In Betracht kommen beispielsweise verfahrensspezifische Vorgaben, indikationsgewichtende Kriterien, Anforderungen an die Struktur- und Prozessqualität, sowie Maßnahmen (z.B. Zulassungsvorbehalte, Lizenzierungen, Kontrollen), welche die Rechtstreue der Anwender und die Transparenz der Maßnahmen sicherstellen.

7. Vorschlag zur Gesetzesänderung

Die zur Rechtsklarheit erforderliche Änderung des ESchG sollte nicht nur die PID für Embryonen von Eltern mit einem spezifischen Risiko zulassen, sondern auch die Nutzung der medizinischen Möglichkeiten zur Verbesserung der Geburtenrate und der Verminderung der Zahl der Mehrlingsschwangerschaften nach IvF erlauben.

Hierfür sollten zumindest die Rechtsgedanken aufgegriffen werden, die jetzt bereits zum Schutz der Frau für einen gerechtfertigten Schwangerschaftsabbruch gelten. Dadurch würden auch die bestehenden Wertungswidersprüche aufgelöst. Eine Regelung, die eine PID nur bei bestimmten, in einem Katalog festgelegten Indikationen zulässt, erscheint nicht sinnvoll.

Die Regelungen sollten dann auch Berücksichtigung in den berufsrechtlichen Vorschriften finden.


Einbeck, den 14.11.2004

Das Präsidium der DGMR e.V