Einbecker Empfehlungen der DGMR zu Rechtsfragen der Personalisierten Medizin

15. Einbecker Workshop der DGMR im April 2013


Die Deutsche Gesellschaft für Medizinrecht (DGMR) e.V. hat vom 19. bis 21. April 2013 ihren 15. Einbecker Workshop unter dem Titel: “Rechtsfragen der Personalisierten Medizin” durchgeführt. Als Tagungsergebnis wurden die nachfolgenden Empfehlungen verabschiedet:

  1. Personalisierte Medizin (individualisierte Medizin) ist ein Sammelbegriff für eine Vielzahl unterschiedlicher Verfahren, wie zum Beispiel persönliche Zuwendung bei der Therapie, Prädiktion von Erkrankungen, autologe Therapie, aber auch die Maßanfertigung von Implantaten und die Stratifizierung. Letztere bezeichnet medizinische Prognostik, Diagnostik oder Therapie, die nach individuellen Parametern, insbesondere biologischen Merkmalen (Biomarkern) der Patienten differenziert und z.B. durch Verwendung eines Begleittests (ggf. auch miniaturisiert als “Lab-on-a-chip”-System) den Einsatz bestimmter Medikamente vorsieht. Treffender als die Begriffe der Personalisierten oder Individualisierten Medizin wäre daher eigentlich der Begriff der “Stratifizierenden Medizin”, denn in der Pharmakogenomik kommt es nicht nur auf eine Ausrichtung der Therapie am Einzelnen an, sondern auf die Zuordnung des Einzelnen zu Gruppen (strata), die einer bestimmten Therapie zugänglich oder nicht zugänglich sind.
  2. Die Verfahren oder Methoden der Personalisierten Medizin beinhalten für die Medizin und die Rechtswissenschaft im Grundsatz nichts Neues. Patientenspezifische Abweichungen erforderten auch bisher differenzierte Therapien (scheinbar) identischer Erkrankungen, wie etwa die individuelle Anpassung von Endoprothesen, die Dosierung von Arzneimitteln oder die Auswahl von Antibiotika entsprechend eines Antibiogramms. Für den Bereich der Pharmakotherapie ist anerkannt, dass Medikamente unterschiedliche Verträglichkeitsprofile aufweisen und wirkungs- und nebenwirkungsabhängig angewandt oder ggf. durch andere Medikamente ersetzt werden müssen. Die sich aus der Personalisierten Medizin ergebenden rechtlichen Fragen können daher grundsätzlich de lege lata beantwortet werden. Einer neuen, eigenständigen Gesetzgebung bezüglich der Rechtsfragen der Personalisierten Medizin bedarf es daher nicht. Zivilrecht (vgl. §§ 630a ff. BGB) und Sozialrecht (vgl. § 33 SGB I) erfordern ohnehin eine individualisierte Konkretisierung von Rechtsansprüchen.
  3. Auf Basis der Entdeckung der Onkogen-Abhängigkeit von Tumoren und der Bedeutung der Transduktionswege sind neue Wirkstoffe entwickelt worden, die zusätzlich zu Chirurgie, Chemotherapie und Bestrahlung nun auch Immunotherapie und Signaltransduktionmodulation bzw. -inhibition als anerkannte Verfahren in der Onkotherapie ermöglichen. Die ständig wachsende Zahl der Zielmoleküle und die sich daraus ergebende Vielfalt der diagnostischen und therapeutischen Verfahren haben der Onkologie neue, ungleich effektivere therapeutische Optionen eröffnet (“treating the tumor along its genetic vulnerability”). So können zum Beispiel durch die Translokations- und Mutationsanalyse oder den Nachweis einer Rezeptorüberexpression Tumoren identifiziert werden, für die ein klinisch relevanter Effekt durch eine zielgerichtete Therapie zu erwarten ist (molekulare Therapie, oder besser: molekülorientierte Therapie/targeted therapy). Auch in anderen Fachgebieten der Medizin führt die Anwendung von Verfahren der Personalisierten Medizin zu effektiveren Behandlungsoptionen (z.B. Diagnostik des Arzneimittelstoffwechsels).
  4. Dem Patienten ist die Möglichkeit der stratifizierten Diagnostik und Therapie anzubieten, wenn sie dem anerkannten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis entspricht. Über deren wesentlich höhere Spezifität, die differenzierteren Therapiekonzepte und spezifischeren Aussagen hinsichtlich der Risiken und der Prognose ist der Patient aufzuklären. Demgegenüber ist eine entsprechende Therapie von Tumorentitäten, bei denen das Zielmolekül nicht vorliegt, in der Regel nicht indiziert. Dies gilt insbesondere dann, wenn unter der Therapie neben der Wirksamkeit ein Schaden zu erwarten ist, der auch darin liegen kann, dass während der nicht zielgerichteten Therapie eine andere, potenziell wirksamere Therapie unterbleibt. Es ist aber nicht auszuschließen, dass auch Patienten, deren Tumor das Zielmolekül nicht aufweist, von der Therapie profitieren können, wenn auch in geringerem Umfang. Die Frage, ob auch Patienten mit einer lebensbedrohenden Erkrankung eine solche Therapie angeboten werden muss, ist – entsprechend den üblichen Beurteilungskriterien – abhängig von der jeweils bestehenden Prognose und den Behandlungsalternativen zu beantworten.
  5. Es liegt in der Natur der Sache, dass eine molekulare Therapie nur bei dem Teil der Patienten indiziert ist, deren Tumor das entsprechende Rezeptormolekül aufweist. Darin liegt jedoch keine Benachteiligung der anderen Patienten. Vielmehr werden durch zielgerichtete Therapien eine Abwendung von Schaden, z.B. von Nebenwirkungen, und damit eine Erhöhung der Patientensicherheit erreicht.
  6. Für den Nachweis der Zielmoleküle kommen Single-Gene Essays, Multiplex-Diagnostik (next generation sequencing) und vollständige Genomanalysen der Tumorzellen in Betracht. Bei den beiden ersten Verfahren werden im Regelfall ausschließlich tumorzellspezifische genetische Eigenschaften untersucht. Solche genetischen Eigenschaften wurden nicht ererbt oder während der Befruchtung oder bis zur Geburt erworben, so dass bezüglich dieser das Gendiagnostikgesetz nicht einschlägig ist. Bei der vollständigen Genomananalyse ist dies jedoch der Fall. Daraus ergeben sich weitreichende Konsequenzen für Aufklärung, Einwilligung und Dokumentation und Verwertung der Ergebnisse.
  7. Die Entwicklung der molekularen Therapie beeinflusst darüber hinaus die klinische Forschung. Sofern nach Analyse der biologischen Grundlagen der Erkrankung das Pharmazeutikum gezielt entwickelt wird (molecular design), kann sich der Wirksamkeitsnachweis (proof of principle) zunehmend in Phase I/II der klinischen Prüfung verlagern, weil Probanden/Patienten entlang der biologischen Rationale der Identifikation der Treibermutation selektioniert wurden, ohne dass dabei Phase III der klinischen Prüfung entfallen könnte. Dies kann zu einer erheblichen Beschleunigung der Arzneimittel-Entwicklung führen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, einen international harmonisierten neuen Ansatz für entsprechende Studiendesigns zu entwickeln.
  8. Aufgrund der hohen Bedeutung der diagnostischen Parameter für die Entscheidung zur molekularen Therapie und deren Erfolg muss sichergestellt sein, dass die Diagnostik eine hohe Sensitivität und hohe Spezifität aufweist. Deshalb sind alle notwendigen Maßnahmen zur Qualitätssicherung zu ergreifen. Auch wenn es wünschenswert erscheint, dass molekulare Diagnostik simultan mehrere Treibermutationen bestimmen kann und flexibel und schnell neue Mutationen integriert, sind doch die Grundsätze der Datensparsamkeit und Zwecktreue zu beachten.
  9. Der Nachweis spezifischer Biomarker kann für die Anwendbarkeit eines Arzneimittels aufgrund seiner Zulassung Voraussetzung sein. Eine Therapie mit diesem Arzneimittel kann haftungs- und sozialrechtlich geboten sein, ist aber faktisch erst dann möglich, wenn die entsprechende Laborleistung zum Nachweis des Biomarkers auch im Versicherungskontext des Patienten erbringbar ist. Sind die entsprechenden Testverfahren ausreichend klinisch validiert, muss deren Abrechenbarkeit durch die Selbstverwaltung der Gesetzlichen Krankenversicherung zur Einführung des Arzneimittels gewährleistet werden, um den Anspruch des Patienten nicht leerlaufen zu lassen.
  10. Die molekulare Therapie hat in der klinischen Entwicklung zahlreiche Besonderheiten: Die Entwicklung des Arzneimittels erfolgt am Rezeptormolekül, die Auswahl der Patienten für die klinische Prüfung knüpft am Vorliegen des Rezeptormoleküls oder anderer Biomarker an, die Subpopulationen sind oft klein und das Studiendesign in der Phase III der klinischen Prüfung kann es erfordern, dass Patienten mit einem Rezidiv mit dem (Prüf-)Arzneimittel behandelt werden (cross-over-design), so dass am Ende der Studie die klinischen Outcome-Parameter gleich sind. Dies lässt es geboten erscheinen, das bestehende Konzept der Nutzenbewertung des IQWiG (Methodenpapier Version 4.0) auf seine Anwendbarkeit hin zu überprüfen und gegebenenfalls zu ergänzen oder zu modifizieren. Molekulare Therapie und Evidenzbasierte Medizin stehen nicht in einem Gegensatz.
  11. Die mit der Personalisierten Medizin verbundene Diagnostik kann zu prädiktiven Ergebnissen führen, die in der gesellschaftlichen Diskussion den Ruf nach individuellen, paternalistischen Vorgaben (“Nudging”) für eine Risikoprävention ergeben, die sich an genetischen Eigenschaften des Einzelnen orientiert. Gesundheitspolitische Bestrebungen, die Erkenntnisse der personalisierten Medizin zu Verpflichtungen oder Obliegenheiten des Einzelnen zu verdichten, sind als Verkürzung der Entscheidungsfreiheit des Einzelnen durch staatliche Vorgaben abzulehnen und weder rechtstaatlich begründbar noch verfassungsrechtlich zu legitimieren (vgl. hierzu “Einbecker Empfehlungen zu Genetischen Untersuchungen und Persönlichkeitsrecht der DGMR”, September 2002).
  12. Die Grundlage für Prognosen und Behandlung von Krankheiten wird zunehmend von Daten determiniert, die zum einzelnen Patienten erhoben wurden. Eine neue, umfangreichere Verantwortung des Einzelnen für seine Gesundheit kann daran jedoch nicht geknüpft werden. Eine Durchsetzung von Verhaltensge- und Verboten mit dem “scharfen Schwert” des Strafrechts muss ultima ratio bleiben und ist hier nicht angezeigt, und zwar mit Blick auf den Subsidiaritätsgrundsatz und die Autonomie des Einzelnen. Eine strafrechtliche Sanktionierung “nicht gesundheitsbewussten Verhaltens” lässt sich daher nicht begründen.


Einbeck im April 2013

Das Präsidium der DGMR e.V