Einbecker Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht (DGMR) e.V. zur Allokation von Spenderorganen, zur Zulassung eines Krankenhauses als Transplantationszentrum und zur Qualitätssicherung (1998)

[MedR 1998, 532]


  1. Der medizinische Fortschritt im Bereich der Transplantationsmedizin hat in den vergangenen Jahren zu einem verstärkten Bedarf an Spenderorganen geführt, der in der Zukunft weiter steigen wird. Die Verteilung der zur Verfügung stehenden Spenderorgane unter rationalen Gesichtspunkten (Allokation) ist damit zu einem wachsenden Problem geworden.
  2. Für die gegenwärtige Verteilung der Organe auf die große Zahl der auf eine Transplantation Wartenden kann es eine allseits befriedigende Lösung nicht geben. Damit ist das Allokationsproblem in der Transplantationsmedizin nicht nur ein ärztliches, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem.
  3. Das Gesetz über die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen (Transplantationsgesetz-TPG) vom 5.11.1997 (BGBl. I 2631) regelt die Spende und die Entnahme von menschlichen Organen, Organteilen oder Geweben (Organe) zum Zwecke der Übertragung auf andere Menschen sowie die Übertragung der Organe einschließlich der Vorbereitung dieser Maßnahmen. Es verbietet den Handel mit menschlichen Organen. Das Gesetz gilt nicht für Blut und Knochenmark sowie embryonale und fetale Organe und Gewebe.
  4. Das Gesetz unterscheidet bei verrnittlungspflichtigen Organen (Herz, Niere, Leber, Lunge, Bauchspeicheldrüse und Darm) zwischen
    • der Meldung des Patienten an das Transplantationszentrum (§ 13 Abs. 3 Satz 1 TPG),
    • der Aufnahme in die Warteliste des Transplantationszentrums (§ 10 Abs. 2 Nr. 2 TPG) und
    • Vermittlung des Spenderorgans an den Empfänger (§ 12 Abs. 3 TPG).
  5. Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten dürfen verbindliche Regelungen zur Vermittlung von Organen in der Transplantationsmedizin nur solche Auswahlkriterien umfassen, die mit den Grundrechten auf Schutz der Menschenwürde, auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie dem grundrechtlichen Anspruch auf Gleichbehandlung in Einklang stehen.
  6. Nach dem Gesetz stellt die Bundesärztekammer den Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft in Richtlinien u.a. für die Regeln zur Organvermittlung fest (§ 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 TPG). Der Bundesärztekammer fällt diese Aufgabe zu, weil sie über den gebotenen medizinischen Sachverstand verfügt und fortlaufend den aktuellen Stand der Erkenntnisse berücksichtigen kann. Diese Richtlinien müssen die vom Gesetz nicht näher definierten Verteilungskriterien, insbesondere Erfolgsaussicht und Dringlichkeit konkretisieren. Die Bundesärztekammer sollte auch Kriterien für eine Abwägung zwischen Dringlichkeit und Erfolgsaussicht benennen. Die Regelungsbefugnis der Bundesärztekammer erstreckt sich auch auf die Benennung konkreter Verteilungskriterien einschließlich ihrer Gewichtung sowie von Verfahrensregeln. Die Richtlinien sind für die im Vertrag mit der Vermittlungsstelle zu vereinbarenden Regeln verbindliche Grundlage. Anders als diese Regeln bedürfen die Richtlinien nicht einer Genehmigung durch das Bundesministerium für Gesundheit.
  7. Hat die durch Vertrag gemäß § 12 Abs. 1, 2 TPG beauftragte Vermittlungsstelle ihren Sitz außerhalb des Geltungsbereiches des Gesetzes (z.B. Eurotransplant), kann durch Bezug des Vertrages auf die Richtlinien der Bundesärztekammer eine Kollision mit übernational entwickelten Verteilungsregeln entstehen. Die übernationale Kooperation bei der Verteilung ist für die Erhöhung der Chance auf Vermittlung eines passenden Spenderorgans anerkannt und bewährt. Sie darf nicht durch Richtlinien der Bundesärztekammer, die den Vorgaben des § 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 TPG entsprechen, aufs Spiel gesetzt werden. Deshalb sollte in dem Vertrag mit einer Vermittlungsstelle nach § 12 Abs. 2 TPG ergänzend zu diesen Richtlinien vereinbart werden, daß die Austauschbilanz je Organart und Land jeweils innerhalb eines Jahres im wesentlichen ausgeglichen sein muß. Ein solches Kriterium ermöglicht die Vermittlung, im Rahmen eines internationalen Organaustausches auch dann, wenn die Vermittlungsstelle durch den Vertrag gegebenenfalls verpflichtet ist, für die Organverteilung in Deutschland zum Teil andere Regeln anzuwenden, als für die Organverteilung in anderen Ländern des Vermittlungsbereichs. Dadurch kann verhindert werden, daß Patienten auf den Wartelisten der Transplantationszentren eines Landes zu Lasten oder zu Gunsten der entsprechenden Patienten in anderen Ländern bevorzugt oder benachteiligt werden.
  8. Aus dem Gesetz ergibt sich die Verpflichtung, bei der Vermittlung der Spenderorgane die Warteliste der Transplantationszentren als eine einheitliche Warteliste zu behandeln (§ 12 Abs. 3 Satz 2 TPG). Hierdurch soll eine bundesweit gerechte Verteilung der Spenderorgane nach medizinisch evaluierbaren Kriterien erreicht werden. Damit nicht in Einklang stehende Wünsche und Bedürfnisse einzelner Transplantationszentren bleiben nach den Vorgaben des Gesetzes zugunsten einer bundesweiten, patientenorientierten Organzuteilung richtigerweise unberücksichtigt.
  9. Bezüglich der Erfolgsaussicht sind die initial bei der Begutachtung des Patienten vorhandenen Parameter, die einer objektivierbaren medizinischen Evaluierung zugänglich sind, vorrangig zu berücksichtigen. Hierzu zählen primär die körperlichen Befunde. Sind aufgrund dieser Parameter mehrere mögliche Empfänger gleich gut geeignet, können zusätzlich individuelle, primär nicht-medizinische Umstände berücksichtigt werden, soweit sie einen medizinisch objektivierbaren Einfluß auf den Erfolg einer Transplantation haben (z.B. Compliance, soziale Einbindung des Patienten).
  10. Die Wartezeit des Patienten allein ist für die Erfolgsaussicht kein zu berücksichtigendes Kriterium, wohl aber die medizinisch relevanten Veränderungen der Transplantationsvoraussetzungen während der Wartezeit. Eine organspezifische Beurteilung dieser Veränderungen kann auch zu einer geringeren Einschätzung der Erfolgsaussicht nach längerer Wartezeit führen.
  11. Die Entfernung zwischen Spenderorgan und möglichem Empfänger darf im Hinblick auf die Erfolgsaussicht nur berücksichtigt werden, wenn die durch den Transport des Spenderorgans bedingte unvermeidbare Ischämiezeit den für das jeweilige Organ kritischen Zeitraum erreicht. Für den Transport ist das im Hinblick auf die Ischämietoleranz des jeweiligen Organs gebotene Transportmittel zu verwenden.
  12. Aus der Anzahl der an einem Transplantationszentrum durchgeführten Entnahmen ergibt sich nach den gesetzlichen Vorgaben kein Anspruch auf eine bevorzugte regionale Zuteilung der Spenderorgane.
  13. Bei der Konkretisierung der Dringlichkeit sind medizinisch objektivierbare Kriterien i.S. einer Prioritätenbildung zu erstellen. Dabei müssen organspezifische Abstufungen der Dringlichkeit festgelegt werden.
  14. Die Zulassung eines Krankenhauses als Transplantationszentrum (§ 1 0 Abs. 1 TPG in Verbindung mit § 108 SGB V) sollte berücksichtigen, daß es eine medizinisch und wirtschaftlich sinnvolle Mindestgröße für Transplantationszentren gibt. Hinsichtlich dieser Größe sollten die Richtlinien zur Qualitätssicherung gemäß § 16 Abs.1 Satz 1 Nr. 6 TPG auch das erforderliche Maß an personeller und infrastruktureller Ausstattung- definieren, um bei der Zulassung und Schwerpunktbildung eine bedarfsgerechte, leistungsfähige und wirtschaftliche Versorgung zu erreichen und die erforderliche Qualität der Organübertragung zu sichern (vgl. § 10 Abs.1 Satz 2 TPG).