Einbecker-Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht (DGMR) e.V.: Der Arzt am Beginn des 21. Jahrhunderts
Zwischen Hippokrates und Staatsmedizin
Aus Anlass ihres 25-jährigen Bestehens hat die Deutsche Gesellschaft für Medizinrecht (DGMR) e.V. am 21. und 22. September 2007 gemeinsam mit der Kaiserin-Friedrich-Stiftung für das ärztliche Fortbildungswesen das 35. Symposion für Juristen und Ärzte veranstaltet. Als Ergebnis dieser Tagung wurden die nachstehenden Empfehlungen verabschiedet:
I. Ausgangslage
Die ärztliche Therapiefreiheit wird heute zunehmend durch rechtliche, wirtschaftliche und strukturelle Rahmenbedingungen eingeengt. Zuletzt hat die Gesundheitspolitik mit dem Vertragsarztrechtsänderungsgesetz und dem GKV-Wettbewerbsstärkungs-gesetz dem ärztlichen Handeln neue Grenzen gesetzt. Die ärztliche Berufsausübung steht vor neuen großen Herausforderungen und tiefgreifenden Strukturveränderungen. Die Bedeutung und die Konsequenzen dieser Veränderungen sind vielen der Beteiligten im System der Krankenversorgung bisher nicht ausreichend bewusst.
Die Ärzte in Klinik und Praxis sehen sich heute auch nach Auffassung des Präsidenten der Bundesärztekammer einer Zentralverwaltungswirtschaft der Kassen, einer Marktbereinigung des Kliniksektors, der Errichtung einer unterstaatlichen Rationierungsbehörde und einer Zerstörung der ärztlichen Freiberuflichkeit gegenüber. Mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts werden Politik und Gesellschaft in Deutschland entscheiden müssen, ob sie die Krankenversorgung zukünftig in die Hände einer von staatlicher Steuerung und Zuteilung geprägten Medizin oder – wie bisher – in die Verantwortung der behandelnden Ärzte und der ihnen anvertrauten Patienten legen wollen.
II. Empfehlungen der DGMR
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- Im Krankenhaus sind Einschränkungen der ärztlichen Therapiefreiheit durch direkte, individuelle Auflagen oder Verbote, z.B. durch den Krankenhausträger, die ärztliche Klinikleitung oder von Seiten der Kostenträger derzeit zwar noch nicht evident. Es ist jedoch zu erwarten, dass solche externen Einflüsse auch im Krankenhaus zunehmend den ärztlichen Entscheidungsspielraum einengen. Gesetzgeber, Kostenträger, Strukturveränderungen und Personalentwicklungen sollten die Individualität und Intensität der Arzt-Patienten-Beziehung sowie die Eigenverantwortlichkeit der ärztlichen Entscheidung und das Selbstbestimmungsrecht des Patienten als Grenze ihrer Eingriffskompetenz respektieren.
- In der vertragsärztlichen Praxis machen sich ökonomische Zwänge insbesondere durch diverse Budgetgrenzen bemerkbar, die sowohl die eigentliche ärztliche Leistung als auch die veranlassten Kosten, sei es durch Medikamente oder notwendige Materialien, einem allgemeinen Spardiktat unterwerfen. Das die GKV beherrschende Sachleistungsprinzip führt dabei zu unsachgemäßen Einwirkungen auf die ärztliche Berufsausübung und das Arzt-Patienten-Verhältnis (z.B. Budgetierung, Qualitätssicherungsrichtlinien, Mengensteuerung, Bonus-Malus-Regelung).
Denn der Vertragsarzt ist kraft seiner Zulassung an die einschränkenden Bestimmungen der GKV gebunden. Er darf z.B. nur diejenigen neuen ambulanten Methoden anwenden, die der Gemeinsame Bundesausschuss anerkannt hat. Alle anderen neuen Methoden scheiden aus, es sei denn, der Patient leidet an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung.
Diese Vorgaben der GKV dürfen den Vertragsarzt nicht in unlösbare Konflikte bringen. Denn nach dem Arzthaftungsrecht muss jeder Arzt – auch der Arzt der GKV – seine Behandlung in eigener Verantwortung und nach eigener Prüfung an dem gegenwärtigen anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaften ausrichten und auch eine neue Methode anwenden, wenn er nach sorgfältiger Prüfung zu dem Ergebnis kommt, dass sie allgemeiner medizinischer Standard ist; andernfalls macht er sich schadensersatzpflichtig. Die Einheit der Rechtsordnung verlangt daher einheitliche Behandlungsstandards im Sozialrecht und im Privatrecht. - Die Bindung an das Sachleistungsprinzip darf nicht dazu führen, dass der Vertragsarzt als Amtsträger i.S.d. Korruptionsdelikte (§§ 331 ff. StGB) qualifiziert wird, nur weil er den Sachleistungsanspruch konkretisiert.
- Die mit dem Vertragsarztrechtsänderungsgesetz und der Novellierung des ärztlichen Berufsrechts geschaffenen neuen Möglichkeiten der ärztlichen Berufsausübung (Anstellung von Ärzten, Filialisierung, überörtliche Gemeinschaftspraxen, Arztstelle nach Zulassungsverzicht, MVZ etc.) eröffnen ökonomisch sinnvolle Gestaltungsmöglichkeiten, die auch der Patientenversorgung zu Gute kommen können. Sie dürfen aber nicht zu tatsächlichen und rechtlichen Abhängigkeiten führen, welche Auswirkungen auf ärztliche Entscheidungen haben und die Behandlung des Patienten negativ beeinflussen.
- Das ärztliche Berufsrecht leidet unter der Aufteilung der Gesetzgebungskompetenzen an Bund (Zulassung zum Arztberuf) und Länder sowie die Selbstverwaltung (Berufsausübung, Fort- und Weiterbildung) einerseits und dem Zugriff aus dem Bereich des Sozialrechts (Recht der Gesetzlichen Krankenversicherung) andererseits. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes im Sozialversicherungsrecht darf nicht für allgemeine Fragen des ärztlichen Berufsrechts ausgenutzt werden. Es erscheint im Übrigen sachgerecht, einheitliche Regelungen zum ärztlichen Berufsrecht einschließlich des Weiterbildungsrechts zu schaffen.
- Bereits heute bestehende medizininformatische Anwendungen, wie z.B. Arztpraxis- und Krankenhausinformationssysteme, Algorithmen für die Bild- und Signalauswertung oder die teilautomatische Kommunikation von Dokumenten werden zukünftig vermehrt durch neue Anwendungen, wie z.B. Telemonitoring, Zweitmeinungscenter, verteilte Wissensplattformen, eLearning-Plattformen, Internetapotheken und elektronische Patientenakten ergänzt. Solche medizininformatische Anwendungen eröffnen erhebliche Chancen für Patienten und Ärzte sowie andere medizinische Berufsgruppen, die Krankenversorgung besser, kooperativer und koordinierter zu gestalten. Sie werfen aber auch neue ethische, rechtliche und praktische Fragen auf, die teilweise noch ungeklärt sind. Falsche Entwicklungen bei medizininformatischen Anwendungen können die Gefahr von Beschränkungen der ärztlichen Therapiefreiheit und Berufsausübung erhöhen. Daher bedarf es eines verstärkten berufspolitischen Engagements der Ärzteschaft, sich qualifiziert mit Chancen und Risken des Einsatzes der Informationstechnologie in der Medizin auseinanderzusetzen und das Sinnvolle auch zum eigenen und zum Nutzen des Patienten umzusetzen.
- Die u.a. vom Sachverständigenrat und der Gesundheitspolitik empfohlene stärkere Einbindung der nicht-ärztlichen Assistenzberufe in die Gesundheitsversorgung hat gerade für die Angehörigen des Arztberufes weitreichende Auswirkungen. Die Ausweitung von Delegationsmöglichkeiten dient insbesondere bei Routinemaßnahmen (z.B. Dokumentation, Organisation) der Arbeitsentlastung des Arztes und ist insoweit zu begrüßen. Die rechtlichen Verantwortlichkeiten im Falle von Substitutionen, also dauerhaften Übertragungen von ärztlichen Tätigkeiten an nicht-ärztliche Mitarbeiter, müssen geklärt und eindeutig zugeordnet werden. Während bei einer Delegation die rechtliche Verantwortung beim Arzt verbleibt, muss diese im Falle einer Substitution in Bezug auf die übertragene Tätigkeit auf den Empfänger übergehen. Denn bei fehlender “Letztentscheidungsbefugnis” des Arztes kann es auch keine rechtliche “Letztverantwortlichkeit” des Arztes geben. Die Verlagerung der Verantwortlichkeiten darf dabei nicht zu einer Risikoerhöhung für den Patienten führen. Die medizinischen Fachdisziplinen und fachärztlichen Berufsverbände sollten, ggf. gemeinsam unter dem Dach der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlich Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF), eine Neuordnung ihrer Leistungs- und Aufgabenkataloge (z.B. in Leitlinien) vornehmen und dabei insbesondere diejenigen Leistungen definieren, die dem originären ärztlichen Bereich zuzuordnen sind und solche Leistungen, die delegiert oder substituiert werden können. Dadurch wird gewährleistet, dass die Rechtsprechung solche von der Fachwelt gutgeheißenen Entwicklungen den gerichtlichen Entscheidungen als Standard zu Grunde legt. Allerdings wird die Rechtsprechung nicht bereit sein, dies auf Kosten des Schutzes des Patienten zu tun. Dies gilt auch für die Frage der Delegation der ärztlichen Aufklärung.
- Die ärztliche Therapieentscheidung darf nicht von ökonomischen Aspekten geprägt werden. Die Freiberuflichkeit und Humanität des Arztberufes kann sinnvoll nur aus der Mitte des Berufsstandes heraus gewahrt und fortentwickelt werden. Deshalb muss die Ärzteschaft weiterhin um den Erhalt dieses Leitbildes kämpfen und sich gegen die Vereinnahmung durch Gesetzgeber und Gesellschaft zur Wehr setzen.
Berlin im September 2007
Das Präsidium der DGMR e.V