Einbecker Empfehlungen der DGMR zu Rechtsfragen der Obduktion und postmortalen Gewebespende
14. Einbecker Workshop der DGMR im Oktober 2011
Die Deutsche Gesellschaft für Medizinrecht (DGMR) e.V. hat vom 15. bis 16. Oktober 2011 ihren 14. Einbecker Workshop unter dem Titel ”Rechtsfragen der Obduktion und postmortalen Gewebespende” durchgeführt. Aufbauend auf die Empfehlungen der DGMR aus dem Jahre 1990 zu “Rechtsfragen der Obduktion” (MedR 1991, 76) wurden als Tagungsergebnis die nachstehenden Empfehlungen verabschiedet:
I. Obduktionsrecht
- Die Obduktion (Sektion, innere Leichenschau, Autopsie, Nekropsie) dient neben der Todesursachenfeststellung und der Information der Angehörigen vor allem der Klärung der Todesumstände, der Aufdeckung von Tötungsdelikten, der Qualitätssicherung ärztlicher Behandlungsmaßnahmen und der Gewinnung gesicherter epidemiologischer Erkenntnisse zu Krankheitsbildern (Todesursachenstatistik, Versorgungsforschung).
- Das Obduktionsrecht sollte alle Obduktionsarten (klinische Sektion, gerichtliche Sektion, Seuchensektion, (sozial-)versicherungsrechtliche Obduktion, Obduktion vor Einäscherung, anatomische Sektion, Privatsektion, Verwaltungssektion) berücksichtigen. Eine gesetzliche Regelung zur Durchführung von Obduktionen sollte insbesondere auch natürliche Todesfälle außerhalb von Kliniken erfassen.
- Im Gegensatz zu Obduktionsraten in anderen Ländern im klinischen Bereich (Österreich: ca. 30-35% in 1999; Großbritannien 13% in 2004; Schweiz 20% in 2002; Schweden 25% in 1994) werden in Deutschland derzeit insgesamt weniger als 5% aller Verstorbenen obduziert. Damit besteht bei über 95% aller Verstorbenen keine autoptisch gesicherte Erkenntnis über die Todesursache und etwaige Begleiterkrankungen. Maßgebliche gesundheitspolitische Entscheidungen (z.B. DiseaseManagement-Programme, Prävention, strukturelle Maßnahmen der Krankenversorgung) beruhen daher auf einer weitgehend ungesicherten Datenlage. Dies hat negative Auswirkungen auf die Qualität ärztlicher Diagnostik und Therapie und somit auf die Patientensicherheit.
- Vor diesem Hintergrund bedarf es transparenter, praktikabler und einheitlicher normativer Vorgaben, die eine höhere Obduktionszahl ermöglichen und damit die Datenlage für die Patientenversorgung und die Versorgungsforschung verbessern sowie für Ärzte und Angehörige eine größere Rechtssicherheit schaffen. Diesem Postulat wird die uneinheitliche Rechtslage in Deutschland derzeit nicht gerecht. Daher sollte die Rechtslage im Wege des kooperativen Föderalismus (Muster-Obduktionsgesetz) oder durch die Schaffung einer Bundesgesetzgebungskompetenz vereinheitlicht werden. Zur Harmonisierung und Konkretisierung der Obduktionsindikationen ist die gesetzliche Verankerung eines Katalogs mit Regelbeispielen zu empfehlen.
- Die landesrechtlichen Regelungen und die Krankenhausaufnahmebedingungen sollten dahingehend vereinheitlicht werden, dass eine klinische Obduktion zulässig ist, wenn der Patient oder, nach seinem Ableben, die Angehörigen auf die Möglichkeit der Obduktion hingewiesen wurden und dieser nicht widersprochen haben (erweiterte Widerspruchslösung).
- Die Anzahl der klinischen Obduktionen kann erhöht werden, wenn die Motivation und Kommunikationskompetenz der Ärzte bereits im Rahmen der Aus- und Weiterbildung nachhaltig gefördert wird.
- Es empfiehlt sich, im Rahmen eines klinischpathologischen Qualitätsmanagements Voraussetzungen zu schaffen, die eine für statistische Zwecke notwendige Steigerung der Obduktionsquote gewährleisten (z.B. “Obduktionsbeauftragter”).
- Neben der adäquaten Vergütung der Obduktion auf Vollkostenbasis sind die für das Qualitätsmanagement erforderlichen Finanzmittel bereitzustellen.
II. Forschung an Leichen
- Die Überlassung von Leichen zu Lehrzwecken erfolgt regelhaft aufgrund von Körperspendevereinbarungen und landesrechtlichen Regelungen. Diese sollten auch Vorschriften beinhalten, welche die Verwendung von Leichen zu Forschungszwecken (z.B. Erprobung neuer Operationstechniken, biomechanische Untersuchungen) erlauben.
- Die Entnahme von Organen, Organteilen und Geweben sowie deren Aufbewahrung sind integraler Bestandteil der Obduktion. Es empfiehlt sich, eine gesetzliche Regelung zu schaffen, wonach die Verwendung der anlässlich einer klinischen oder rechtsmedizinischen Obduktion entnommenen Proben nach Wegfall des ursprünglichen Verwendungszwecks unter deren Pseudonymisierung zu Forschungszwecken zulässig ist. Durch diese Forschung werden insbesondere die Möglichkeiten der Patientenversorgung verbessert sowie die Weiterentwicklung der Strafrechtspflege und die Qualität der Sachverständigenbegutachtung nachhaltig gefördert.
III. Postmortale Gewebespende für therapeutische Zwecke
- Die postmortale Gewebeentnahme in der Rechtsmedizin zur späteren Übertragung der Gewebe auf schwer erkrankte Patienten (z.B. Augenhornhäute, Gehörknöchelchen, Blutgefäße) stellt einen wertvollen Beitrag für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung dar.
- Die rechtlichen Vorgaben für die postmortale rechtsmedizinische Gewebeentnahme im Transplantationsgesetz (TPG) sind durch die Verknüpfung mit den rechtlichen Vorgaben für die Organentnahme praxisuntauglich und im Hinblick auf die Richtlinien der Bundesärztekammer unvollständig.
- Es bestehen bedeutsame Unterschiede zwischen der postmortalen Organentnahme unter intensivmedizinischen Bedingungen (“warme Leiche”) und der postmortalen Gewebeentnahme in der Rechtsmedizin (“kalte Leiche”). Die Problematik der Hirntodkonzeption ist bei der postmortalen Gewebespende nicht relevant, da sichere Zeichen des Todes vorliegen (Totenflecke, Totenstarre). Daher ist die postmortale Gewebespende in einem eigenen Gesetz zu regeln.
- Zur Beseitigung des bestehenden Mangels an postmortal entnommenem Gewebe und zur Verbesserung der medizinischen Versorgung der Bevölkerung wird die Einführung der erweiterten Widerspruchslösung empfohlen.
Im Oktober 2011
Das Präsidium der DGMR e.V